Überlegungen zur Corona-Pandemie

Was bedeutet "exponentielles Wachstum"?

Im Verlaufe der Corona-Pandemie ist immer wieder die Rede davon, dass sich die Krankheit "exponentiell" ausbreitet und dass die Anzahl der Infizierten "exponentiell" anwächst. Der Laie versteht intuitiv, dass das Geschehen sehr schnell abläuft. Aber wie kann man ein Gefühl dafür bekommen, wie schnell das vor sich geht?

Der Begriff exponentiell geht zurück auf die mathematische Exponential-Funktion

y = ea*x   (a>0  eine beliebige Zahl)

Deren Werte steigen mit wachsendem Argument x unvergleichbar viel schneller an als die fast aller anderen Funtionen, mit denen Wachstum beschrieben werden kann.

Funktions-Graphen:

_____ Parabel   y = x2+1
"normales" Wachstum, linear wachsende Steigung
_____ Exponential-Funktion   y = ex
"exponentielles" Wachstum, exponentiell wachsende Steigung

Der optische Vergleich der Graphen lässt nicht erkennen, wie sehr unterschiedlich die beiden Funktion (weiter) wachsen, wenn die Argumente größer werden. In diesem Falle sagt ein Bild zwar auch mehr als tausend Worte, aber hier geben ein paar Zahlen besseren Aufschluss über das Ausmaß des Wachstums.

Wertetabellen:

x x2+1 ex
0 1 1,000
1 2 2,718
2 5 7,389
5 26 148,...
10 101 22.026,...
20 401 485.165.195,...
25 626 72.004.899.337,...
30 901 10.686.474.581.524,...
40 1.601 235.385.266.837.020.000,...
50 2.501 5.184.705.528.587.072.045.056,...

In der Infektionsausbreitung spielt nicht ex (ea*x mit a=1)   selbst eine Rolle, sondern eine etwas weniger steil verlaufende Variante mit a<1.

Die Funktion 2x:

Exponentielles Wachstum kann auch mit der Funktion

y = 2x     = (eln(2))x = eln(2)*x

beschrieben werden, denn sie ist offenbar ebenfalls eine Exponential-Funktion mit dem speziellen Faktor a = ln(2) = 0,301... bei x. Dabei ist ln() der natürliche Logarithmus und die Umkehrfunktion der Exponential-Funktion.

x x2+1 2x
0 1 1
1 2 2
2 5 4
5 26 32
10 101 1.024
20 401 1.048.576
25 626 33.554.432
30 901 1.073.741.824
40 1.601 1.099.511.627.776
50 2.501 1.125.899.906.842.624

Auch diese Funktion hat ein rasantes Wachstum, erkennbar an einem Wert von mehr als 1 Milliarde / 1 Billion / tausend Billionen für x=30 / 40 / 50. Mit ihr kann in einer groben Annäherung die ungehinderte Ausbreitung einer Infektion beschrieben werden, wenn ein Reproduktionswert von 1 gegeben ist.

Einfaches Infektionsmodell:

Bei einem Reproduktionswert von 1 steckt jeder Infizierte (statistisch) in einem bestimmten Zeitraum einen Gesunden an. Auch wenn Niemand diesen Zeitraum für eine größere Bevölkerungsgruppe realistisch benennen kann, wird hier 1 Woche angenommen, sicher eine halbwegs plausible Größe.

Ausgehend von einem Infizierten gibt es nach 1 Woche 2 Infizierte, nach 2 Wochen 4 Infizierte, nach 3 Wochen 8 Infizierte, ... D.h. die Infiziertenzahlen folgen der Funktion 2x, und die weitere Entwicklung kann aus obiger Tabelle abgelesen werden. Nach 10 Wochen ist demnach die Anzahl der Infizierten auf ca. 1.000 angewachsen. Das sieht zunächst noch harmlos aus. - Aber danach ändert sich die Situation dramatisch.
Nach 20 Wochen: ca. 1 Million Infizierte
nach 25 Wochen: ca. 33 Millionen Infizierte
D.h. in diesem Modell wäre
nach einem halben Jahr fast die gesamte Bevölkerung in Deutschland
und nach einem weiteren Monat die gesamte Weltbevölkerung infiziert
.
Auch wenn statt 1 Woche ein längerer Zeitraum für die Verdoppelung angesetzt wird, verschiebt sich die totale Infizierung der Bevölkerung offenbar bestenfalls um wenige Wochen.

Im Modell werden wesentliche Einflussgrößen nicht berücksichtigt, die eine ungehemmte Ausbreitung der Infektion bremsen und ggf. sogar zu einer Abnahme der Infiziertenzahl führen können:
  1. Genesene sind für eine Weile immun und stecken nicht weiterhin an.
  2. Hygiene und Kontaktvermeidung verlangsamen die Ausbreitung.

Welchen Einfluss hat das auf die Aussagekraft des Modells?
Punkt 1 vermindert erst dann die Ansteckungen signifikant, wenn die Bevölkerung bereits weitgehend "durchseucht" ist ("Herdenimmunität"). So weit sind wir aber noch lange nicht.
Punkt 2 kann schon vorher die Infektionen bremsen, aber die Ausbreitung bleibt bis zur Herdenimmunität grundsätzlich exponentiell (wenn auch mit einem ggf. deutlich kleineren Faktor a bei x), solange die ergriffenen Maßnahmen eine konstante Wirkung haben.

Das Modell bildet also das Wachstum der Infektionskurve qualitativ richtig ab, und die Infektionszahlen wachsen grundsätzlich exponentiell an.

Schlüsse:

Es gibt nur eine einzige Methode, die Infiziertenzahl im Griff zu behalten: Man muss mit geeigneten Maßnahmen so weit wie möglich an den Anfang der Kurve zurückkehren, an dem die Verdoppelung der Infiziertenzahl pro Woche eine Weile unterhalb einer krtischen Grenze bleibt. - Beispiel: Ist die Infiziertenzahl auf 32 gedrückt, hat man 5 Wochen Zeit, bis sie wieder 1.000 erreicht, vergl. Tabelle.

Dass die Corona-Infektionen sofort wieder steil ansteigen, nachdem sie gerade mühsam reduziert werden konnten, ist nach dem gerade Gelesenen nicht weiter überraschend. Wer die Regeln nur noch lasch befolgt oder wieder nach Lockerung schreit, hat den Mechanismus des latenten exponentiellen Wachstums nicht verstanden und führt die nächste Corona-Welle herbei.

Also müssen wir
  1. die Regeln und Maßnahmen strikt einhalten, um den Anstieg zu dämpfen (bis zu einer breiten Immunisierung durch Impfungen) und
  2. die Regeln und Maßnahmen ständig anpassen und nötigenfalls verschärfen, um an den Anfang der Kurve zurück zu kehren und dadurch den latenten exponentiellen Anstieg der Zahlen im Griff zu behalten